Sind wir nicht alle etwas Shrimps?

Wie moderne "Lebensmittel" ihre Rechte einfordern

Text: Herb Buchlowski • Fotos: Rosa Licht

 

Pattukkottai, Distrikt Thanjavur, Tamil Nadu, Indien, Erde, September 2005

 

"Der ewige Jammer mit den Weltverbesserern ist, dass sie nie bei sich selbst anfangen", sagte einst der Schriftsteller Thornton Wilder (1897-1975). Ich bin kein Weltverbesserer, aber seit ich in Südindien die Shrimpsfarmen (Fotos) gesehen habe, esse ich keine Shrimps mehr. Außer einmal, aus Versehen, ich war in der niegelschotten neuen Hamburger Hafencity bei einem superschicken Flying Buffet. Es wurde serviert anlässlich der Präsentation modernster Medientrends wie mentaler Schreibmaschinen, digitaler Lichtfasssäulen und Feuermelder im All. Die Tiefseegarnelen hatten sie in einem Teigmantel und in Sojasauce getarnt. Die zweite Ausnahme waren 200 Gramm Nordseekrabben im Kreis meiner Lieben, die wir zu Fünft bei einem Fest drei Tage lang geteilt haben. Das ging nur politisch korrekt, nachdem wir diskutiert hatten, dass diese in Marokko gepult und dann wieder zu uns nach Europa gekarrt werden. Nicht, dass mir der Verzicht schwer fallen würde; als alter Allgäuer, als Angehöriger des als sparsam bekannten kleinen listigen Bergvolks, bin ich Kässpatzen gewohnt.

"Die Vernunft beginnt bereits in der Küche."
Friedrich Nietzsche (1844-1900), deutscher Philosoph

Da diese Spatzen – als gehobelte Knöpfe, und nicht wie bei den Schwaben in Form von kurzen dicken Schab-Nudeln – seit jeher aus Wasser, Salz, Mehl und aus Eiern bestehend, bei nahezu 100 Grad Celsius gesiedet und sodann mit gerösteten Zwiebeln und Käse überbacken mit einer frischen Prise Pfeffer an einem knackigen grünen Salat serviert werden, hat mich selbst die Vogelgrippe kalt gelassen.

"Die meisten Menschen in modernen, urbanisierten Gesellschaften pflegen den Kontakt mit nichtmenschlichen Lebewesen vorwiegend während der Mahlzeiten."
Peter Singer (*1946), Australischer Philosoph und Tierethiker.

Genauso wie dereinst die Schweinepest, die im Jahr 2003 großflächig wütete. Ich verabschiedete mich damals aus privaten Gründen vom südoldenburgischen Land, der Region mit der größten Tierdichte in Europa. Knusprige Schweinshaxe ade, wenn Bestände mit mehreren tausend Tieren innerhalb von einer Woche vollständig davon infiziert sein können.

"Alles, was der Mensch den Tieren antut, kommt auf den Menschen zurück."

Pythagoras (-582--496), griechischer Philosoph und Mathematiker

Mein Unbehagen wuchs in Wien, wo ich Menschenheilkunde studierte, beim Tafelspitz, bei herrlich frisch geriebenem Meerrettich, mit der Vorstellung, dass der 1981 konstatierte Rinderwahnsinn sein Unwesen treibt und dieser Tage mit seiner Inkubationszeit von bis zu 25 Jahren nachhaltig für Hirnweichheit sorgt. Wie sagte Rudolf Steiner, Gründer der Anthroposophie, im Vortrag vom 13.1.1923 in Dornach schon: "Es gibt Tiere, die kein Fleisch fressen, zum Beispiel unsere Kühe. Wenn wir das Experiment machen könnten, eine Ochsenherde mit Fleisch zu füttern, so würden die Ochsen verrückt." Unsere Rinder wurden mit Tiermehl gefüttert. Diese Tiere führen ein Leben für den Tod, geboren, um geschlachtet zu werden. Das notorische Auftreten von Tierepidemien, wie BSE (Bovine Spongioforme Enzephalopathie), der Maul- und Klauenseuche oder der so genannten "Traberkrankheit" (Scrapie) bei Schafen sind Folgen einer in die menschliche Zivilisation eingebettete Nutztiersklaverei, sind eine moralische und ökologische Sackgasse. Wir finden Tierleichenteile in Gummibärchen, Schmalzgebäck, Tomatensuppe mit Speckfett, Kosmetika, Medikamenten, Fruchteis mit Gelantine, kurz, in allerlei menschgemachten Stoffen. Bedeutet Menschsein aber nicht: Verantwortung für sich selbst und für andere Individuen zu entwickeln?

“Es gibt Menschen, die sich immer angegriffen fühlen, wenn jemand die Wahrheit sagt."
Morgenstern, Christian (1871-1914), deutscher Schriftsteller

Wenn jemand ein Problem erkannt hat und nichts zur Lösung beiträgt, ist er selbst ein Teil des Problems. Was ist in Indien mit mir geschehen? Ich habe die Shrimps-KZs gesehen, bin kilometer-, stundenlang an den Stacheldrähten entlang gefahren, an der verbrannten Erde vorbei, wollte dem projektiven Größenwahn der ausbeuterischen Altvorderen und ihrer allesfressenden Kinder, dem kapitalistischen SAP-Irrglauben des Everything Goes, dem übermediaisierten bürokratisch-technokratischen Komplex, der europäischen Dekadenz und dem materiellen Überfluss, der allgemeinen seelischen Not und dem Hunger der Herzen entfliehen. Ich sah im Indischen Ozean, wie die Fische immer kleiner wurden, um den Maschen der immer größeren Netze zu entfliehen, dachte, artgerecht ist für Tiere nur die Freiheit, und fand in den himmlischen Tempeln von Tamil Nadu zwischen den strahlend lebenden Menschen, die scheinbar nichts haben, den Satz von dem großen indischen Heiligen Swami Vivekananda (1863-1902)"Zwischen mir und dem kleinsten Tier liegt der Unterschied nur in der Erscheinungsform, im Prinzip sind wir das gleiche."

Veröffentlicht in der DEEPWAVE-Doku: Segeln gegen Proteinpiraten, Juli 2006